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Ein wildes Schwein mit Namen Wilfried 

Leseprobe - 1. Kapitel

Wilfried, du bist doch kein Wildschwein

Wilfried war das glücklichste Schwein auf der Welt. Gerade lag er mit neun anderen Ferkeln an den Zitzen seiner Mutter. Er trank und schnaufte gierig. Meistens aber sprang er zwischen seinen Geschwistern umher und grunzte munter. Dabei trieben es die Ferkel oft sehr toll. Sie quiekten schrill oder bellten gar wie Hunde. Ja, sie jagten sich mitunter durch den Trog, dass das Futter nur so spritzte. Und Wilfried war das wildeste von all den kleinen Schweinen. Manchmal sprach die Mutter streng: „Still, sonst kommt Olbert!“ Olbert war das Oberschwein. Er kam täglich am Gatter vorüber, warf einen Blick herein und fragte: „Na, alles in Ordnung, Hilde?“ Woraufhin Hilde jedes Mal antwortete: „Alles in Ordnung, Olbert!“ Und sie sagte das selbst dann, wenn eines von Wilfrieds Geschwistern im Eifer sein Geschäft eben noch im Trog erledigt hatte. „War da nicht gerade noch eines deiner Kinder mit dem Hintern im Trog?“ „Ach was, Olbert, das war nur ein Lichtfleck, der durch das Dachfenster fiel.“

 Olbert war streng, manchmal ein bisschen grob, aber nicht wirklich böse. Die Kleinen durften ihn sogar Onkel nennen. Er spazierte den ganzen Tag in den Gängen zwischen den Buchten auf und ab. Hin und wieder, wenn ihn eines der Ferkel fragte: „Was machst du, Onkel?“, dann antwortete er: „Ich sorge für euch. Ich sorge für Ruhe und Ordnung.“ Auch die älteren Schweine tuschelten durch die Gitter hindurch: „Wie hat er das nur angestellt, der Olbert? Wie hat er nur geschafft, dass der Bauer ihn draußen rumlaufen lässt?“ Und wenn eine der Sauen ihn fragte: „Hallo, Olbi, mein Held, wie bekommt man so einen Posten?“ Dann hob Olbert vielsagend die Brauen, nickte und sagte nur: „Tja …“ „Olbi, du Süßer“, sagte dann manche Sau, „heirate mich, lass uns gemeinsam durch die Gänge wandeln …“ „Geduld, mein rosa Engel, ich muss das mit dem Bauern besprechen …“, sagte Olbert daraufhin und lächelte geschmeichelt. Dann zog er sich wie jeden Mittag für ein Schläfchen in seine Bucht neben der Stalltür zurück. Wenn Olbert schnarchte, dann vibrierten die staubigen Fensterscheiben und die Spinnennetze flatterten wie Segel im Wind. Dies war die Stunde, da die Ferkel zusammenrückten und sich mit klopfendem Herzen Geschichten über Olbert erzählten. Denn da war ein Geheimnis um Olbert. Mancher munkelte, es sei ein dunkles Geheimnis, ein finsteres gar.

Einmal war es vorgekommen, da hatten die Ferkel den Rücken ihrer Mutter als Rutschbahn benutzt. Olbert kam gerade in dem Moment vorbei, als Wilfried in den frisch gefüllten Trog rutschte. Platsch! machte es und Olbert wischte sich eine Portion Futter aus dem Auge. Er beugte sich vor, steckte seinen Rüssel durchs Gatter und befahl: „Komm mal her, du Zwerg!“ Ängstlich drückte sich Wilfried zwischen seine Kameraden, und alle wichen zurück. „Nur Mut, Kleiner“, sagte Olbert, „sieh dir mal meine Nasenlöcher an!“ Zögernd und ein wenig neugierig trat Wilfried heran und blickte in Olberts große Nasenlöcher. Er staunte, was für riesige Höhlen! Und plötzlich fuhr aus den Höhlen ein Windstoß. Wilfrieds kleine Schweineohren flatterten und knatterten im Sturm. Der Sturm schwoll zum Orkan. Olberts RüsselsturmFerkel im Sturm

Plötzlich Windstille und alles schien vorüber. Doch im nächsten Moment wurde Wilfried von einer Bö ergriffen, die ihn quer durch den Stall warf. Und er wäre an der gegenüberliegenden Seite derb aufgeschlagen, hätte seine Mutter nicht ihren dicken Hintern blitzschnell zwischen Wilfried und die Wand gebracht. „Ha, ha“, lachte Olbert. „Das nächste Mal atme ich ein, dann bist du weg, du Wicht! Also schön brav bleiben! Du bist doch kein Wildschwein!“ Am Abend schon hatte Wilfried seinen Flug durch den Stall vergessen. Er lag zusammen mit seinen Geschwistern an den Zitzen der Mutter und schmatzte laut, so lecker war die Abendmilch. Später drängten sie sich aneinander, gähnten und blinzelten ins Abendlicht. Aus einem Lautsprecher in der Stalldecke klang sanfte Musik und eine Stimme erzählte leise von all dem leckeren Futter, das sie eines Tages bekämen.

Eines Tages, wenn sie nur erst größer wären … Wilfried grunzte. Wohlig satt drängte er sich zwischen seine Geschwister und kuschelte sich an seine Mutter. Zufrieden schlief er ein und träumte. Er träumte von wilden Rutschpartien über den mütterlichen Rücken nicht abwärts, sondern aufwärts durch das Dachfenster hinauf zu den Sternen. Er träumte von einem See süßer Milch, in dem er fröhlich planschte. Das ging so vier Wochen lang. Dann, eines Morgens baute sich Olbert vor Hildes Box auf und verkündete: „So, ihr Zitzenlutscher, Schluss mit Mamamilch, ab heute gibt es Futter für richtige Schweine!“ Olbert schlug die Vorderfüße aneinander, dass die Hornschuhe klapperten. „Auf, auf! Alles in einer Reihe antreten! Nicht drängeln, jeder darf mit. Immer mit der Ruhe, einer nach dem anderen.“ Wilfried ging sich von seiner Mutter verabschieden und vor allem, noch einen Schluck aus einer ihrer Zitzen zu nehmen. Er schloss die Augen, schmatzte und versank beinahe in einem süßen Milchseetraum. Da schreckte ihn Olberts Stimme auf: „He, Wilfried, du Wicht! Was ist mit dir? Wie lange sollen wir noch auf dich warten?“ Wilfried rieb noch einmal seinen Rüssel an der Wange seiner Mutter und sie drückte ihren Rüssel noch einmal schmatzend auf den seinen. „Hilde, lass gut sein!“, grunzte Olbert. „Los, Wilfried, hopp, hopp!“ Einer hinter dem anderen folgten sie Olbert durch den Gang zu den Jungschweinen. „So“, sagte er, „damit ihr Halbstarken euch nicht prügelt, hat jeder seine eigene Box.“ Als Erstes inspizierte Wilfried den Trog. Das Futter war wirklich lecker, er hätte fressen können und fressen … „Tja, Jungs, fresst nur, fresst!“, sagte Olbert. „Das ist doch was anderes als Muttis Plempe, das ist ein Fresschen für richtige Kerle, was?!“ Olbert warf sich stolz in die Brust, als hätte er das Futter selbst angerührt. „Und für alle, die brav sind, gibt es sonntags echte Rübenschnitzel. Was, Rübenschnitzel kennt ihr nicht? Na dann, wartet mal ab. Ihr werdet euch die Mäuler lecken!“ Wilfried grunzte nur, ohne seinen Rüssel aus dem Trog zu nehmen. Wie staunte er, als er sich satt gefressen hatte und aufsah. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen: Vor sich sah er das Gesicht seiner Mutter, ihren Rüssel genau vor seinem Gesicht. War sie etwa mitgekommen? Er schnuffelte und schnuffelte, doch er fand nicht ihren vertrauten Geruch. Er wollte den Rüssel gegen ihren Rüssel drücken, doch er spürte nur kaltes Glas. „Fernsehen“, erklärte Olbert, „das nennt man Fernsehen. Wir hatten früher so was nicht. Wer brav ist, bei dem schaut ab und zu die Mama durch die Mattscheibe rein! Und wer ganz brav ist … Da, mein Junge, guck hin!“ Plötzlich war die Mutter weg. Jetzt sah Wilfried hinter der Scheibe große schlammige Pfützen, in denen sich Schweine suhlten. Er sah eine Wiese voll bunt blühender Blumen, auf der andere Schweine Haschen spielten. Wieder andere sah er, die in der Erde wühlten und offenbar etwas sehr Leckeres fanden, das sie genüsslich verspeisten. „Regenwürmer“, erklärte Olbert. „Sieh es dir an, dort kommst du hin, wenn du ordentlich zunimmst. Denn was du nicht siehst im Fernsehen: Da draußen weht ein rauer Wind, und wer zu leicht ist, den bläst er weg. Du weißt …“ Olbert blähte seine Nasenlöcher. Dann lachte er bellend und stapfte davon.